Wir sind froh, hier zu sein

Seit dem 16. März lebt und wohnt Familie Diakov in Bernburg. Außer dem Ältesten, Vlad, der im wehrpflichtigen Alter ist, floh die gesamte Familie aus der ukrainischen Stadt Winnyzja über Ungarn nach Bernburg in Deutschland. Zu Oksanas und Mykolas Familie gehören die Jüngste, Milana, Benjamin und Filaret, der in diesem Jahr eingeschult wird, Lukian und Mark, beide gehen in die Grundschule, Pawlo, Darya, Elisabeth und Timoteus, allesamt Gymnasiasten und der Älteste Danylo, der in Bernburg gern seine Kfz-Mechanikerausbildung fortsetzen möchte. Elf Kinder bzw. Jugendliche! Das scheint selbst den Begriff Großfamilie nur unzureichend zu treffen.

Ihre Heimatstadt in der Ukraine ist Winnyzja. Diese hatte Anfang 2020 noch fast 370.000 Einwohner, besitzt mehrere Hochschulen, viele kulturelle Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten und weist eine vielfältige Industrie aus.

Darüber hinaus verfügt die Stadt über einen Flughafen sowie Verwaltungseinrichtungen für die ukrainische Luftwaffe. Nicht zuletzt deshalb wurde Winnyzja wohl zur Zielscheibe russischer Raketenangriffe, denn eigentlich liegt sie recht zentral in der Ukraine. Gleich am ersten Tag, am 24. Februar 2022, dem offiziellen Beginn der russischen Invasion, kam der Krieg zu ihnen nach Winnyzja. Wie Oksana erzählt, schlugen an diesem Tag um 4.00 Uhr morgens die ersten Raketen auf dem nahegelegenen Flughafen ein. Unablässig heulten die Sirenen. „Wir hatten bereits Notfallrucksäcke gepackt und den Keller hergerichtet, der aber nur über eine Luke zugänglich war… Wir haben immer gehofft, dass das alles nicht nötig sein wird, aber da haben wir uns geirrt! - Die Großen weckten an dem Morgen die Kleinen. Alle waren in Panik und hatten schreckliche Angst. Der Jüngste, Benjamin, bekam einen Herzanfall. Wir wussten nicht, was wir tun sollen. Spezielle Medikamente hatten wir ja nicht, denn auf sowas waren wir ja überhaupt nicht vorbreitet! Die Telefonverbindungen, auch Handy-, waren zusammengebrochen! Nicht einmal einen Notruf konnten wir absetzen.“ Am Ende ging es gut aus. Wie, das können sie sich heute selbst nicht mehr recht erklären. Wahrscheinlich reichten die vorhandenen Arzneien und die Beruhigungen der Eltern und Geschwister…
Den ganzen Tag über signalisierten die Sirenen den nächsten Alarm, damit die Leute sofort Schutz suchen konnten. Die Schulen schlossen als nächstes, die Versorgung mit Lebensmitteln brach bald darauf zusammen. Und dann wurde es noch schwieriger sich zu versorgen, als die Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine in die Stadt strömten. Wenige Zeit später wurden Waffen an alle Über-18-Jährigen verteilt. Das zeigte nicht nur ihnen, wie ernst die Lage inzwischen war!

„Immer wenn die Sirenen losheulten, blieben die Menschen stehen, egal wo sie waren, und schauten zuerst einmal zum Himmel. Und dann rannten alle um ihr Leben, zum nächsten Bunker. Niemand mehr fand wirklich noch Ruhe. Vor allem die Kinder nicht. Sie konnten nicht mehr schlafen, hatten Angst, weinten. Sie kamen überhaupt nicht mehr raus aus unserem Keller, ihre Freunde waren weg! Es war einfach nur noch schrecklich…“ Wegen der Kinder begannen Oksana und Mykola schließlich über eine Flucht nachzudenken. „Eigentlich wollten wir gar nicht weg. Niemand wollte das! Aber wir konnten doch nicht einfach zusehen, wie unsere Kinder leiden? Wir hielten das nicht mehr aus!“

Den Kontakt nach Deutschland vermittelte der Pastor der heimatlichen Baptistengemeinde zur Mennoniten-Brüdergemeinde nach Bernburg. Das war gut, aber zuallererst mussten die Diakovs einmal nach Ungarn kommen, denn nur von dort könnte man sie abholen. Rund drei Wochen nach dem Überfall, genau am 14. März 2022 fuhren sie los. Gemeinsam mit anderen Familien, vorbei an -zig Barrikaden und Hunderten Soldaten. „Ich erinnere mich noch genau. Einmal zuckte Mykola unmittelbar neben einer Barrikade kurz zusammen, vielleicht, weil er nur ein Niesen unterdrücken wollte, und sofort waren alle Waffen auf ihn gerichtet! Alle hatten sie Angst, unsere Soldaten genauso wie wir…“

Die Fahrt ging nur langsam voran. Sie kamen kaum aus dem Auto raus. Und wenn die Autos einmal stehen blieben, war sofort die Furcht wieder da. Die Kleinen fingen an zu weinen. - In allen Städten und Dörfern, durch die sie kamen, gab es nichts zu essen zu kaufen. Alle Geschäfte waren zu. „Zwei Tage waren wir unterwegs. An der Grenze standen wir eine gefühlte Ewigkeit. Es war hundekalt. Bestimmt -15 Grad Celsius!“ Einer der Jungs verbessert seine Mutter: „Mama. Es waren -8 Grad!“ Egal, wenn man sich kaum bewegen kann oder darf, machen sieben Grad Kälte wohl kaum einen Unterschied… - Endlich durften sie die Grenze passieren. Ab jetzt mussten sie zu Fuß weiter! „Aber wir konnten endlich einmal aufatmen. Und bald darauf wurden wir auch schon abgeholt.“

Seit dem 16. März sind sie in Bernburg, kamen zunächst bei einer sehr netten Gastfamilie unter, später mieteten sie ein Haus, das ihnen die Kanzler von Pfau’sche Stiftung zur Verfügung stellte. „Zum ersten Mal seit langem konnten wir ruhig und normal schlafen. Die Kinder vor allem,“ freut sich Oksana noch heute. „Wir wurden gut aufgenommen und sind dankbar für all die Hilfe, die uns zuteilwurde und wird. Wir versuchen uns langsam einzuleben, doch das ist nicht so einfach, wie man denkt. Die Kinder vermissen ihre Freunde und ihren großen Bruder. Wir alle haben große Angst um ihn. - Und wir erschrecken uns leicht, sobald wir ein Flugzeug oder einen Hubschrauber hören. Und als letztens das Feuerwerk, ich glaube, das war zum Stadtfest, einsetzte, wollten einige der Kinder sich ganz schnell verstecken…“

Zum Glück ist das Haus groß, alle haben und finden ihren Platz. Es gibt sogar einen kleinen Flecken mit etwas Grün hinter dem Haus zum Spielen. Die Wohnräume wirken im Moment noch etwas leer. Wenn man bedenkt, dass alle außer jenem Rucksack für den Notfall, den jeder von ihnen in den Tagen vor dem Überfall gepackt hat, nichts weiter mitnehmen konnte, verwundert einen das nicht mehr. Sie haben sich inzwischen einiges kaufen können und bekamen vieles gespendet, darunter auch ein Klavier, das leicht verstimmt ist. Um das Klavier versammelt sich die Familie manchmal und Danylo spielt dann für alle. Gelegentlich begleitet ihn Darya auf ihrer Dombra, eigentlich ein kasachisches Instrument, das einer birnenförmigen Laute ähnelt. An diesem Nachmittag spielen sie gemeinsam die „Morgendämmerung“, eine ukrainische Weise, während der Rest der Familie auf der Couch und auf Stühlen andächtig lauscht. Einige summen die Melodie mit. In Gedanken sind sie in diesem Moment wieder in Winnyzja…

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